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Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul

Das ist unser Haus

Feature
Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Das Projekt »Mosul Heritage« bietet Führungen durch ein sorgfältig restauriertes Haus in der Altstadt von Mosul an.

Sieben Jahre nach dem Ende der IS-Herrschaft erfindet sich die irakische Metropole Mosul neu – und blickt dazu tief in die Vergangenheit.

Ein heißer Nachmittag im Mai: Nach einem Spaziergang durch die verwinkelten Gassen der teilweise zerstörten Altstadt von Mosul verspricht eine der alten Bäckereien Erfrischung. Vor neugierigen Blicken verborgen, empfängt der Besitzer Mustafa in seinem privaten Salon. Er überrascht mit einem kühlen Numi Basra, einer Limonade aus eingelegten Zitronen. In der Ecke steht ein Plattenspieler. Aus der Zeit gefallen und doch genau passend an diesem Ort.

 

Mustafa legt eine Platte des legendären ägyptisch-syrischen Sängers Farid Al-Atrasch auf – und sein Salon wird zum Fenster in die guten Zeiten der Metropole am Tigris, deren Gegenwart von den Zerstörungen der jüngsten Vergangenheit überschattet wird. Urbizid, eine Wortschöpfung aus den lateinischen Begriffen urbs (Stadt) und caedere (schneiden, töten), lässt sich am ehesten mit Stadtmord übersetzen. Wenn das urbane Leben gewaltsam ausgelöscht wurde, kann es dann wieder auferstehen?

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Inzwischen hat das Projekt »Mosul Heritage« seine Aktivitäten auf die gesamte Provinz Ninive ausgeweitet.

 

Museumsführer Ali erzählt lächelnd über bessere Zeiten. »Damals wussten die Menschen den Wert eines guten Geschäfts noch zu schätzen.« Handwerker, Händler und ihre Kunden hätten damals das Leben hier geprägt. Jetzt führt er durch alte Vorratskammern, in denen die Bewohner für schlechte Zeiten vorsorgten, um sich vor den gierigen Händen der Despoten und Paschas zu schützen. Eine vorausschauende, manchmal sogar asketische Lebensweise, die zu einer Fülle von Erzählungen über die Menschen von Mosul inspiriert hat.

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Ziel des Projekts »Mosul Heritage« ist es, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Versöhnung in einer von Konflikten geprägten Gemeinschaft leisten.

 

So entstanden mündliche Überlieferungen, die wie humorvolle Anekdoten aus den Schriften des großen Reisenden Ibn Battuta klingen und dazu geführt haben, dass Moslawiya als Synonym für Geiz in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Während die Gastgeber heute spielerisch versuchen, die Vorurteile gegenüber den Menschen in Mosul zu entkräften, betonen sie stets auch die Würde und den Stolz der städtischen Gesellschaft. Menschen wie Mustafa und Ali geht es nicht um ein verklärtes Bild der Vergangenheit, sie wollen das stärken, was die Menschen hier verbindet.

 

Der Blick auf die Geschichte der Stadt, die zwar weit zurückliegt, aber die Menschen verbindet, kann helfen, die jüngste Vergangenheit der Stadt schrittweise zu verarbeiten. Konkret wird dieser Ansatz etwa beim Anblick sorgfältig restaurierter historischer Gebäude. Lebendige Museen für die Bewohner der Stadt und für Besucher aus dem In- und Ausland.

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Eine Zeichnung des Viertels Al-Qiliayat im Musumshaus des »Mosul Heritage«-Projekts.

 

Der monatelange Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) hat Spuren hinterlassen. Auch wenn er vor über einem halben Jahrzehnt gewonnen wurde, ist die Altstadt von Mosul bis heute davon gezeichnet. Gleichzeitig ist im kulturellen Herzen der Stadt eine bemerkenswerte Initiative entstanden. Der Journalist und Unternehmer Saker Al-Zakariya hat hier 2019 das Museum Baytna und die gleichnamige Stiftung für Kultur, Erbe und Kunst gegründet. Baytna bedeutet auf Arabisch »Unser Haus«. Der Ort ist mehr als ein Museum, er ist eine lebendige Oase, die das reiche kosmopolitische Erbe Mosuls zelebriert.

 

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Hausgemachte Seife auf dem Basar der Altstadt von Mosul

 

In einem sorgfältig rekonstruierten, über hundert Jahre alten Haus im traditionellen Stil nimmt Baytna den Besucher mit auf eine Zeitreise. An den Wänden hängen Porträts berühmter Künstler und Persönlichkeiten aus Mosul. Das Haus beherbergt eine Sammlung historischer Alltagsgegenstände, die von Einheimischen gespendet wurden und einen Einblick in das Leben vor den jüngsten Konflikten geben. Etwa historische Kostüme aus der Zeit der osmanischen Herrschaft oder aus dem kurzlebigen Königreich Irak Mitte des 20. Jahrhundert.

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Die Al-Bascha-Moschee wurde dank der Spenden von ANwohnern und Händlern vom angrenzenden Basar wieder in Stand gesetzt.

 

Das Kulturhaus ist zugleich ein Veranstaltungsort und bietet Raum für Lesungen, Konzerte und Ausstellungen. Gründer Saker Al-Zakariya bringt mit dem Baytna aber auch seine komplexe Beziehung zu seiner Heimatstadt zum Ausdruck. »Nach 2005 bedeutete mir Mosul nichts. Ich habe die Stadt gehasst, verabscheut, verachtet. Ich verlor so viele Freunde und versuchte, mich von hier fernzuhalten«, sagt er über sein Verhältnis zu Mosul. »In der Nacht ihres Falls 2014 weinte ich hysterisch bis zum Morgen, weil ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, zu dieser Stadt zu gehören und sie gleichzeitig verloren zu haben«, erinnert er sich an die dunkelste Stunde Mosuls, als der IS die zweitgrößte Stadt des Iraks im Handstreich einnahm. »Als Mosul fiel, begann ich, mich als Moslawi zu identifizieren.«

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Moderne Murals im Stile des antiken Erbes am Falken-Platz in Mosul

 

Nach Jahren der Entfremdung war es vor allem die Zerstörung des kulturellen Erbes seiner Heimat, die ihm einen neuen Zugang zu Mosul eröffnete. Baytna zieht nicht nur Touristen und Würdenträger aus aller Welt an, sondern hilft auch, das Stigma zu überwinden, unter dem die Menschen hier leiden – galten sie doch erst als Günstlinge des Baath-Regimes und später als Unterstützer der IS-Herrschaft im Nordirak. Dass die Moslawis auch Opfer waren, wollen viele Iraker ihnen nicht zugestehen.

 

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Die syrisch-katholische Tahira-Kirche wurde während der IS-Herrschaft teilweise zerstört.

 

So gilt Mosul auch als »Stadt der Millionen Offiziere«. Eine Bezeichnung, die zu Zeiten Saddam Husseins entstand, als viele der Bewohner in der Armee dienten. Doch solche oberflächlichen Einschätzungen verkennen den historischen Kontext. Die militärische Tradition der Tigris-Metropole ist Teil der Identität der Einheimischen und reicht bis in die osmanische Zeit zurück, als die Stadt strategisch wichtige Militärkasernen beherbergte. Saker will daher nicht nur das kulturelle Erbe bewahren, sondern auch mit solchen Vorurteilen aufräumen, um eine differenzierte Sichtweise zu ermöglichen.

 

Neben Baytna will auch das Projekt »Mosul Heritage« von Ayub Thanun den Menschen den Stolz auf ihr reiches historisches Erbe zurückgeben. Der Kulturunternehmer bietet Führungen durch ein sorgfältig restauriertes Haus in der Altstadt an, das im Kampf gegen den IS zerstört worden war. Dabei stellt Thanun vor allem Wohnkultur und Gastfreundschaft in den Vordergrund. So ist ein Bereich dem traditionellen Salon gewidmet, in dem man sich früher zum Kaffee traf. Ein weiterer Bereich ist eine Art Heimatmuseum mit Artefakten aus verschiedenen Epochen der Stadtgeschichte: Nähmaschinen, Plattenspieler, Zeitungen und Geldscheine werden hier gezeigt, die an die kurze Zeit der haschemitischen Monarchie im Irak erinnern.

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Der IS nutzte die syrisch-orthodoxe Thomas-Kirche als Gefängnis.

 

Ayub Thanun hofft, dass sein Museum nicht nur dazu beiträgt, die Identität Mosuls zu bewahren. Er will auch die jungen Maslawis mit ihrer eigenen Geschichte vertraut machen. Inzwischen hat das Projekt »Mosul Heritage« seine Aktivitäten auf die gesamte Provinz Ninive ausgeweitet. Thanun organisiert Studienreisen und Exkursionen, die verschiedene Gemeinschaften miteinander in Kontakt bringen und so zu einem verbindenden Stolz auf das Erbe der Region beitragen sollen. »Wir wollen sicherstellen, dass sich die Menschen auch in Zukunft als Maslawis identifizieren«, sagt Thanun. »Die Menschen haben nach wie vor eine starke Verbindung zu dieser Stadt«, ist sich der Kulturunternehmer sicher. Ein Zeichen dafür: Immer mehr Einheimische beteiligen sich an den Restaurierungsarbeiten.

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Ein Denkmal, das die Weideraufbauleistung der Maslawis würdigt

 

Ziel des Projekts »Mosul Heritage« ist aber nicht nur die Förderung und der Erhalt des kulturellen Erbes in Mosul. Zum einen soll es die Lebensqualität der Menschen hier verbessern, indem es zum Beispiel Touristen anlockt, zum anderen will das Projekt aber auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Versöhnung in einer von Konflikten geprägten Gemeinschaft leisten. Sowohl Ayub Thanun als auch Saker Al-Zakariya bedienen mit ihren Projekten und ihrem Engagement für das kulturelle Erbe Mosuls die Sehnsucht nach einer Zeit, die nicht von Konflikten entlang konfessioneller Grenzen geprägt war. Das ist kein Eskapismus, sondern der Versuch, die Gräben zu überwinden.

 

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Erinnerungsarbeit als Grundlage für eine gemeinsame Zukunft, die sich nicht über die Narben der Vergangenheit definiert

 

Denn klar ist auch: Die Wunden, die der IS geschlagen hat, sind längst nicht verheilt. Auch sieben Jahre nach dem Ende seiner Herrschaft sind rund 100.000 aus Mosul geflohene Menschen nicht zurückgekehrt. Umso wichtiger erscheint Erinnerungsarbeit als Grundlage für eine gemeinsame Zukunft. Eine Zukunft, die sich nicht über die Narben der Vergangenheit definiert, sondern über die kollektive Stärke einer Stadt, die entschlossen ist, sich neu zu erfinden.


Der Artikel stützt sich auf Feldforschung in der Provinz Nineveh, die im Rahmen des von der britischen UK Aid finanzierten Forschungsprogramms Cross-Border Conflict Evidence, Policy and Trends (XCEPT) durchgeführt wurde.

Von: 
Inna Rudolf

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